Bildungsnachteile ausgleichen: Gemeinsam die „Risikogruppe“ im Blick

Schultafel auf der "Teamwork" geschrieben steht
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Ob Kitas, Schulen, Jugendhilfe oder Gesundheitsämter: Gemeinsam sollen sie für ein optimales Aufwachsen der Kinder und Jugendlichen Sorge tragen

Dass Bildung und Chancengleichheit nicht allein Sache der Schulen sind, sondern eines Netzwerkes möglichst vieler lokaler Akteure bedürfen, ist in vielen Köpfen angekommen – aber noch nicht im Handeln. Dabei kann Prävention nur durch Kooperation besser gelingen.

Nach der Veröffentlichung der ersten Schülerleistungsvergleiche PISA 2000 war der Schock groß. Rund 20 Prozent der SchülerInnen verließ in Deutschland damals die Schule ohne ausreichende Kompetenzen für eine Berufsausbildung. Es wurden zahlreiche bildungspolitische Handlungsstrategien entwickelt – durchaus auch mit Erfolg, wie der Bildungsbericht 2016 konstatiert: „Leistungsverbesserungen zeigen sich seit der ersten PISA-Erhebung vor allem für Jugendliche aus sozioökonomisch schwachen Elternhäusern (…). Die Risikogruppe der leseschwachen 15-Jährigen ist 2012 mit 15 Prozent um 8 Prozentpunkte kleiner als noch 2000.“ Aber für ein Bildungssystem, das Chancen bieten und ausgleichen soll, ist das Ergebnis noch sehr unbefriedigend.

Wenn man die „Risikogruppe“ gezielt ins Blickfeld nimmt, wird es keine Einrichtung alleine schaffen, ihre Nachteile im Bildungsverlauf auszugleichen. Die Schulkommission der Heinrich-Böll-Stiftung hatte – wie auch der Deutsche Verein oder die Bertelsmann-Stiftung – 2008 empfohlen, regionale Bildungslandschaften oder lokale und regionale Verantwortungsgemeinschaften für Kindheit und Jugend zu bilden. Besonders wichtig ist dabei die Kooperation von Schule und Einrichtungen der Jugendhilfe.

Was sind die Hindernisse für Kooperationen?

Der Handlungsbedarf ist offensichtlich, aber warum ist es so schwierig, das Selbstverständliche und Notwendige umzusetzen? Liegt es an den rechtlichen Vorgaben? An der Konstruktion der Zuständigkeiten in Verwaltung und Einrichtungen? An den Akteuren? Kurz zusammengefasst macht die Rechtslage eine Kooperation der beteiligten AkteurInnen nicht unmöglich, fördert sie aber auch nicht:

  • Der Bund macht die Gesetze für die Kinder- und Jugendhilfe, inklusive der Hilfen zur Erziehung (SGB VIII),
  • die Kommunen führen sie unterstützt von freien Trägern aus und
  • die Länder sind für die Schulen verantwortlich.

Die Beteiligten brauchen einen großen Einfallsreichtum, die rechtlichen Vorgaben so zu dehnen, dass eine gemeinsame Verantwortung entsteht. Die finanziellen Ressourcen fließen in der Regel auch in parallele Strukturen und sind nicht auf eine gemeinsame Verantwortung angelegt.

Verschiedene Akteure haben verschiedene Logiken

Vielerorts wird die Schule als dominant empfunden, der sich alle anderen Akteure unterordnen sollen. Alle Einrichtungen aber haben ihre je eigene Logik der Arbeitsweise, die Professionen einen je eigenen Blickwinkel und eigene Routinen, die nur schwer zu verändern sind. Neben Schule und Jugendhilfe gibt es soziale und Gesundheitsdienste, die gerade bei bildungsbenachteiligten Kindern und Jugendlichen parallel agieren und mit unterschiedlichen Strategien geradezu kontraproduktiv wirken und Ressourcen verschwenden können. Damit sich hier etwas ändert, müssen alle Beteiligten den Handlungsbedarf aber erst einmal erkennen.

Änderungen des Sozialgesetzbuches, veränderte Zuständigkeiten von Bund, Ländern und Kommunen dauern, aber Städte und Kreise müssen nicht auf die großen Lösungen warten, sondern können diesem Dilemma auch aus eigener Kraft entkommen:

Übergreifende Budgets

In Berlin können die Bezirke eine begrenzte Summe für die Kinder- und Jugendhilfe sozialräumlich bewirtschaften – das Geld soll besser jetzt in die Prävention als später in die Hilfen zur Erziehung fließen. Ebenso werden EinzelfallhelferInnen aus dem Schuletat finanziert und können somit direkt in der Schulklasse arbeiten.

In Nordrhein-Westfalen können mit Hilfe von Kooperationsvereinbarungen Mittel von Land und Kommunen für eine bessere Verzahnung genutzt werden. Bildungsbüros, Kompetenzteams und Kommunale Integrationszentren sollen die Zusammenarbeit in regionalen Bildungsnetzwerken koordinieren. Damit kann zum Beispiel durchgehende Sprachförderung von der Kita in die Schulen realisiert, die Zusammenarbeit mit Eltern verbessert und auch die Übergänge von der Schule in den Beruf optimiert werden.

Gruppenangebote

In Mannheim wurden individuelle Angebote der Jugendhilfe in Gruppenan­gebote umgewandelt – womit man mehr Kinder und Jugendliche erreichen kann. Schulen erhalten Innovationsfonds zum Beispiel für ihre interkulturelle Arbeit, multifamiliale Klassenzimmer, Netzwerk­arbeit und einen besseren Übergang von der Schule in den Beruf.

Organisatorische Verzahnung

Freiburg im Breisgau arbeitet schon seit 2006 mit Bildungsbüros und hat zur besseren Verzahnung die Ämter für Schule und Jugendhilfe zusammengelegt. Der Fokus der Arbeit liegt auf gelingenden Bildungsbiografien. So wurde bereits erreicht, die Zahl der „Sitzenbleiber“ um ein Drittel zu reduzieren und die Quote der ausländischen SchülerInnen ohne Abschluss zu halbieren. Dafür bekommen immer mehr Kinder aus dieser Gruppe eine Gymnasialempfehlung. Im Projekt Gleis 25 der Jugendberufsagentur schließlich arbeiten VertreterInnen aus Sozialarbeit, Jugendhilfe, Schule und Berufsberatung zusammen, um den Übergang von Schule zu Beruf deutlich zu verbessern.

Prävention durch Kooperation braucht eine Rechtsgrundlage

Langfristig sollten die Rechtsgrundlagen so geändert werden, dass individuelle Ansprüche auch gruppenbezogen realisiert und damit präventiv verwendet werden können und nicht erst dann, wenn Jugendliche zu „Fällen“ geworden sind. Die Einrichtung, die die Probleme zuerst erkennt, soll die weiteren Hilfen koordinieren. Ebenso sollten die Ressourcen auch in regionalen, sozialräumlichen Budgets bewirtschaftet werden können.

Damit alle Ebenen am gleichen Strang ziehen, sollte es klare Zielvereinbarungen geben, etwa geringere Schulabbrecherquoten oder bessere Übergänge in die berufliche Ausbildung. Diese müssen aber realisierbar, überprüfbar und verbindlich sein. Dazu eignen sich auch Kooperationsvereinbarungen zwischen den verschiedenen Einrichtungen und Akteuren. Bei klar formulierten Zielen kann ein Bildungsmonitoring hilfreich sein, wenn dazu gezielte Daten erhoben werden.

Kooperationen brauchen darüber hinaus eine feste institutionelle Verankerung mit festen Terminen und kontinuierlichen Ansprechpartnern. Positive Erfahrungen macht Berlin mit Schulstationen, in denen SozialarbeiterInnen oder SozialpädagogInnen in den Schulen präsent sind. Sprechstunden, die das Jugendamt in Schulen anbietet, tragen nicht nur dazu bei, dass die Akteure sich besser miteinander abstimmen, sondern auch, dass Eltern die Hemmungen gegenüber dem Jugendamt verlieren und Hilfen besser annehmen können.

Alle Akteur/innen vor Ort, ob in Kitas und Schulen, in der Jugendhilfe und den Gesundheitsämtern: Gemeinsam sollen sie für ein optimales Aufwachsen der Kinder und Jugendlichen Sorge tragen. Das schafft keine Einrichtung alleine.

Dieser Aufsatz basiert wesentlich auf den Ergebnissen des Werkstattgesprächs „Bildung im Sozialraum“, das von der Heinrich-Böll-Stiftung im Dezember 2015 veranstaltet wurde. Dokumentation und Empfehlung finden Sie in unserem böll.brief Teilhabegesellschaft #3 - Bildung im Sozialraum.

Der Aufsatz erschien zuerst in der AKP – Fachzeitschrift für Alternative Kommunalpolitik, Ausgabe 2/2017, S. 26-28. Er ist Teil unseres Dossiers "Bildung im Sozialraum - Gelingensbedingungen für Kooperationen in Bildungslandschaften".